Gemeindeautonomie
Avenir Suisse hat vor wenigen Jahren eine ausserordentlich lesenswerte Studie zu Stand und Entwicklungen in Bezug auf die Gemeindeautonomie in der Schweiz vorgelegt. Besonders der erste Teil der Studie bietet einen detaillierten Überblick über die Beziehungen zwischen Kantonen und Gemeinden. Trotz dem teilweise etwas starken ökonomischen Duktus ist der Bericht auch politologisch und bildungspolitisch interessant.
Schweiz: einzigartiges Modell
Lukas Rühli kommt unter anderem zum Schluss, dass die Schweizer "Kombination von derart hoher Gemeindeautonomie mit derart kleinen Gemeinden weltweit einzigartig" sei (S. 16). Er sieht "die hohe Gemeindeautonomie im Zusammenspiel mit der direkten Demokratie" als wichtigen Grund "für die Bürgernähe und Bedarfsgerechtigkeit der staatlichen Leistungserbringung sowie den verhältnismässig schlanken Staatsapparat in der Schweiz" und als "Grundpfeiler des Erfolgsmodells 'Schweiz'". (S. 8)
Subsidiarität
Im Schweizer Föderalismus ist offenbar das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen nicht analog zu demjenigen zwischen Kanton und Gemeinden zu sehen: Die Schweizer Kantone sind gemäss der verwendeten Kategorisierung "nicht abermals föderal organisiert, sondern als dezentralisierte Einheitsstaaten zu sehen" (S. 18). "Die einzigen Leitplanken, die der Bund den Kantonen bei ihrer internen Organisation setzt, sind das seit 2008 in der Bundesverfassung verankerte Subsidiaritätsprinzip (Art. 5a) und das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz." (S. 18). Die Kantone können so also weder historisch noch juristisch als eigentliche Verbände von Gemeinden gesehen werden (der Bund dagegen als Verband von Kantonen). Trotzdem sollten - so auch der Autor dieser Studie - die Maximen des Subsidiaritätsprinzips angewandt und eingefordert werden, denn: "Für das Ziel einer bedarfsgerechten und möglichst effizienten Leistungserbringung ist die politische und die ökonomische Autonomie der Gemeinden entscheidend." (S. 19) Zudem sollten die Kantone deshalb "ihre Aufteilung von Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung zwischen Kanton und Gemeinden in gewissen Abständen systematisch überprüfen und anpassen." (S. 77)
Handlungs- und Entscheidungsautonomie schwindet
"Die tatsächliche Handlungs- und Entscheidungsautonomie der Gemeinden ist deutlich kleiner, als man aufgrund eines oberflächlichen Blicks auf die Daten vermuten könnte. Zudem hat sie im letzten Jahrzehnt weiter abgenommen. Bei verschiedenen Aufgaben sind die Gemeinden eher in der Rolle eines Vollzugsorgans." (S. 81). Und dies obwohl bei politischen Reformen immer wieder behauptet wird, die Autonomie der Gemeinden würde gestärkt. "Die Mehrheit der Gemeindeschreiber ist der Meinung, dass die Autonomie ihrer Gemeinde im Zuge der Verlagerungen von Aufgaben, Lasten und Entscheidkompetenzen nicht zugenommen hat, sondern dass der Gemeinde im Gegenteil Kompetenzen entzogen worden sind. Dies steht im krassen Widerspruch zu dem in den meisten Botschaften zu Finanz- und Aufgaben teilungsreformen formulierten Ziel, die Gemeindeautonomie zu stärken." (S. 79)
Handlungsbedarf
Trotzdem vertritt auch Avenir Suisse in dieser Studie die Meinung: "Die beobachtete Zentralisierungstendenz ist kein Hinweis auf eine sinkende Leistungsfähigkeit der Gemeinden. Im Gegenteil: Diese Leistungsfähigkeit ist, absolut gesehen, im Verlauf der Zeit gestiegen. Die Anforderungen der Bürger, vom Bund, vom Kanton – generell die Komplexität der Aufgaben – sind aber mindestens so stark gestiegen. Wendet man Kriterien wie Subsidiarität und fiskalische Äquivalenz zur Bestimmung der Aufgabenteilung zwischen Kanton und Gemeinden an, ist eine schleichende Zentralisierung der Aufgaben nichts anderes als die logische Folge dieser veränderten Rahmenbedingungen."
Link
Gemeindeautonomie zwischen Illusion und Realität (PDF)
Literatur
Rühli, L. (2012). Kantonsmonitoring 4: Gemeindeautonomie zwischen Illusion und Realität. Gemeindestrukturen und Gemeindestrukturpolitik der Kantone. (Avenir Suisse, Ed.). Zürich: Feldegg.