Neues Angebot: FAQ zu Oberstufen-Modellen im Kt. BE

Wie können die Gemeinden in ihren Schulen die Chancen für alle verbessern?

Publikation via: PHBern Kolumnen

Die Gemeinden können zu gerechten Bildungschancen für alle Schulkinder in ihren Schulen beitragen. Die lokalen Bildungsbehörden tragen dabei eine gewisse Verantwortung, denn es kommt neben der Pädagogik auch stark auf die Rahmenbedingungen an.

Im Corona-bedingten Schul-Timeout zeigt sich deutlicher als sonst, wie unterschiedlich die Bildungschancen der Schulkinder sind. Die so genannte «Schere» zwischen den Schulleistungen der «guten» und der «schlechten» Schülerinnen und Schüler, zwischen benachteiligten und privilegierten Kindern öffnet sich offensichtlich in dieser speziellen Situation noch viel weiter als sonst schon.

Aber warum geht diese «Schere» auch im normalen Schulsetting so stark auf? Warum ist der Schulerfolg beispielsweise über die Quartiere der Stadt Bern nicht gleichmässig verteilt? Warum haben Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen weniger Schulerfolg?

Zwei Faktoren erklären einen grossen Teil des Schulerfolgs: Wer zu Beginn der Schulkarriere nicht genug deutsch versteht, holt diesen Rückstand fast nicht mehr auf. Und: Kinder, die ausserhalb der Schule (zuhause, Betreuung, …) kein gutes Lernumfeld haben und wenig zum aktiven Lernen motiviert werden, fassen schlecht Tritt in der Schule.

Beide Faktoren liegen auf den ersten Blick ausserhalb des Einflusses der Schule. Die Lehrpersonen können im vorhandenen System noch so motiviert und professionell arbeiten, diese beiden Nachteile bügeln sie in der Schule trotzdem nicht mehr aus. Ergo seien auch die lokalen Bildungsbehörden weitgehend machtlos, lässt sich schliessen. Dieser Schluss ist aber voreilig. Es gibt sehr wohl Spielraum für mehr Bildungsgerechtigkeit – auch auf Ebene der Gemeindeschule.

Ein Teil davon lässt sich bestens am so genannten «Fernunterricht» vorführen, denn jetzt sind die Schülerinnen und Schüler den ganzen Tag in ihrem gegebenen Lernumfeld zuhause. Wenn wir davon ausgehen, dass einige Kinder und ihre Eltern nicht gut deutsch lesen und verstehen können:

  • Organisation: Wie formulieren wir unsere Infos? Können wir uns kurz fassen und uns auf das Wesentliche konzentrieren? Verstehen die Eltern und die Schulkinder uns? Braucht es Übersetzungen?
  • Didaktik: In welcher Form und mit welchen Medien geben die Lehrpersonen die Aufgaben und Aufträge weiter? Wie vergewissern sie sich, dass diese auch verstanden werden? Haken sie nach und versuchen sie Missverständnisse zu klären? Was tun sie, wenn keine Antwort kommt, kein Kontakt geknüpft werden kann? Haben die SuS alles, um die Aufträge durchführen zu können?

Beim «Fernunterricht» akzentuieren sich auch didaktisch-methodische Fragen, die aber ebenfalls nicht neu sind:

  • Wie lernen die Schülerinnen und Schüler, sich und ihr Lernen selbst zu organisieren? Wie lernen sie, selbst Motivation zum Neues lernen aufzubringen und sich positive Selbstwirksamkeits-Erfahrungen zu verschaffen? Auch ohne reiches Lernumfeld zuhause?
  • Welche Kinder brauchen mehr Zuwendung und spezielle Förderung? Welche arbeiten selbständiger bzw. selbständig sogar besser? Wie motivieren wir die sogenannt «Stärkeren»? Und wie die «Schwächeren»? Geben wir motivierende Rückmeldungen?

Nicht jedes Kind braucht die gleiche und gleich viel «Förderung». Die einen lernen den Schulstoff alleine schneller und besser als in der Gruppe. Andere brauchen den sozialen Kontakt und die Beziehung zum Lernen. Das heisst einmal mehr und immer wieder: Es führt kein Weg an individualisierenden, differenzierenden Lehrformen vorbei. Erst wenn alle Kinder fähig und gewöhnt sind, allein oder in Gruppen selbständig zu lernen, erst dann erhält die Lehrperson den Freiraum, um sich gezielt um diejenigen zu kümmern, die es nötig haben. Hat ein Kind den Auftrag noch nicht ganz verstanden? Braucht ein Kind noch einen Tipp und eine Aufmunterung?

Wie eine Schule kommuniziert, wie sie mit Differenz umgeht, wie sie mit Vorurteilen und Stereotypen umgeht, wie sie individualisierend-differenzierendes Begleiten fördert und einfordert, im Unterricht und in der Betreuung: Das sind Teile einer Schulkultur, eines Schulprofils oder Schulleitbilds und damit politisch-strategische Fragen der Ausrichtung. Die Schulbehörden sind hier gefragt, mit den Schulleitenden und mit dem Lehr- und Fachpersonal gemeinsam getragene Leitlinien zu entwickeln.

Die Gemeinden haben weitere Spielräume, um innerhalb des gegebenen Systems ein Maximum an Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen:

  • Sie können integrative und altersgemischte Schulmodelle wählen (Basisstufe, Oberstufenmodelle, etc.), in denen der Umgang mit der Heterogenität automatisch zum Thema werden muss.
  • Sie können die frühe Sprachförderung ausbauen und wie Bern und andere Städte Deutsch-Förderkurse für Kinder im Vorschulalter anbieten.
  • Sie können eine bessere Zusammenarbeit zwischen Unterricht und Betreuung in den multiprofessionellen Teams fördern.

Mit diesen mutigen Schritten können die Gemeinden Möglichkeiten ausloten, Lösungen erproben und den politisch-institutionellen und auch den öffentlichen Diskurs über die Chancen(un)gleichheit in der Schule befeuern. Denn das Beispiel der frühen Sprachförderung zeigt: Der Kanton unterstützt zwar diese Bestrebungen ideell und finanziell (nur zu einem Drittel), aber er macht keine Vorgaben und übernimmt so auch keine Führungsrolle. Dabei wäre es höchste Zeit, dass der Kanton hier mehr fordert und auch mehr bezahlt. Wie die öffentlichen Schulen sollte hier der Finanz- und Lastenausgleich zum Zug kommen. Sonst haben beispielsweise Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund in ärmeren, kleineren Gemeinden noch weniger Chancen, den Schuleintritt auch sprachlich zu meistern.

Der quasi über Nacht eingeführte «Fernunterricht» hat die unterschiedlichen Bildungschancen der Kinder wieder ins Bewusstsein gerufen. Sogar die grossen Medien haben über die Problematik berichtet. Lassen wir uns als Behörden doch von dieser Dynamik motivieren, diese Forderungen wieder aufzunehmen und mit den Schulleitungen und den Lehr- und Fachpersonen zu diskutieren. Etwa: Wo genau liegen eigentlich in unserer Schule die Hindernisse für den differenzierenden Unterricht? Was braucht es, damit dieser endlich flächendeckend Wirklichkeit wird? Ist den Lehrpersonen klar, dass sie sich jetzt im Fernunterricht und danach mehr auf die «Schwächeren» konzentrieren dürfen – ja sogar müssen? Denn die «Stärkeren» haben nun noch mehr Selbständigkeit gelernt und Selbstwirksamkeit erfahren.

Was uns die Phase des verordneten «Fernunterrichts» weiter lehrt: In der Schule geht es nicht nur um Schulstoff, Wissen und Schulerfolg. Die Schule ist auch ein Ort der sozialen Kontakte, der Sozialisation, der Beziehungspflege. Die Kinder lernen, sich in einer Gruppe zu bewegen, einander solidarisch und respektvoll zu begegnen. In diesem Sinn erlernen sie Grundfähigkeiten für die Demokratie. Auch in all diesen Themen gilt es sensibel zu bleiben auf die unterschiedlichen Hintergründe und Startbedingungen der einzelnen Schulkinder.

Über den Autor

Markus Heinzer ist Dozent an der PHBern, Präsident der Schulkommission Breitenrain-Lorraine und der Volksschulkonferenz der Stadt Bern sowie unabhängiger Berater und Projektleiter für Gemeinden und Kommissionen im Bildungsbereich.